Ein Leben ausschließlich im Auto?

Kann das überhaupt funktionieren?
Ist das überhaupt erlaubt?
Ist das nicht zu kalt?
Ist das nicht zu warm?
Wo kackst du eigentlich?
Duscht du überhaupt?
Wo duscht du?
Was sagen eigentlich deine Eltern dazu?
Wie verdienst du denn Geld?
Was ist mit deiner Rente?
Wieso kannst du nicht einfach wie jeder andere auch sein und dir einfach ne Wohnung mieten?
Ach du bist so ein Influenzer?

Diese und ähnliche Fragen beantworte ich mehrmals täglich, vielen auch mehrfach.

Viele werden jetzt sagen – Kevin, ist doch toll, dass Menschen Interesse daran zeigen.
Klar würde es mich freuen, wenn Menschen tatsächlich echtes Interesse an einem alternativen Lebensstil haben und für die Argumente wertungsfrei offen wären.

Nach vier Jahren solcher Gespräche habe ich aber ein gutes Gespür dafür entwickelt wer wirklich Interesse an dieser Art zu leben hat (wenn auch „nur“ informativ) und wer eigentlich nur Gründe sucht kein Risiko einzugehen und der inneren Stimme zu horchen, die schreit: „Geh raus hier, dieses Leben tut dir nicht gut.“

Jeder "normale" unglücklich?

Keinesfalls.
Meist laufen solche Gespräche aber nach einem Muster ab. Mein Gegenüber beklagt sich ausladend über seinen undankbaren Job (den er gern wechseln würde, aber ohne stundenlange Fahrtzeit nicht kann), die exorbitante Miete, abzockende Dienstleister, fehlende Selbstverwirklichung wegen Zeitmangel usw.

Argumentiere ich dann, dass so gut wie jeder dieser Punkte jederzeit geändert werden kann, indem „out of the box“ gedacht wird und der einzig limitierende Punkt eine unbewegliche Wohnsituation ist, kommt grds. das selbe „Argument“: Ich finde es total bewundernswert, was du tust und ich würde es auch gern machen, aber das geht mit meinem Job / meiner Familie / meinem Kind / meinem Hund / meiner Frisur nicht.
Hier sucht also wieder jemand Gründe und keine Lösungen.

Oft verliere ich mich sehr leicht in diesen Gesprächen, ich versuche sachlich die Vor- und Nachteile meiner Wohnsituation darzulegen.

Leider sieht das dann aber meist so aus:

Ein Gespräch mit jemandem

Ein Leben ausschließlich im Auto? 
Ja, mein zuhause ist nur ein Fahrzeug.
Wow, krass. Und wie lange willst du das machen?
So lange, bis ich entweder nicht mehr überzeugt von dieser Lebensweise oder gestorben bin.

Kann das überhaupt funktionieren?
Klar, kann das funktionieren, wenn man von diesem Leben überzeugt ist, sein Ziel kontinuierlich verfolgt und gesellschaftliche Abstriche machen kann. Ein Beispiel siehst du ja hier. 

Ist das überhaupt erlaubt?
Es gibt kein Gesetz dagegen, was in Deutschland (übrigens anders als in den USA) bedeutet, dass es erlaubt ist.

Ist das nicht zu kalt?
Nein, ich hab ja ne tolle Heizung. Meist ist mir sogar deutlich zu warm. Ab 0°C schalte ich das Gebläse in meinem Dachfenster aus. Ab -5°C schließe ich dann auch das Dachfenster. 

Ist das dann im Sommer nicht zu warm?
Nein, mein Auto ist an jedem Fleck Metall mit extrem isolierenden, dämmenden und nicht brennbaren Material gedämmt. Außerdem habe ich durch eine Standheizung, welche auch als Ventilator dient und mein Dachfenster, welches 39 Kubikmeter Luft pro Minute bewegt, einen perfekten Luftaustausch. Die Temperatur in meinem Auto ist also grundsätzlich deutlich geringer als die Außentemperatur, selbst wenn ich direkt in der Sonne parke.

Wo kackst du eigentlich?
Auf Toilette, in ne Plastiktüte oder in ein Loch in der Erde.
Boah, das könnte ich nicht. Ich brauche meine Toilette zuhause.
Kann ich an sich verstehen, die Umstellung ist allerdings viel einfacher als man denkt. Biologisch gesehen ist deine Körperhaltung auf ner Toilette sogar eher suboptimal.

Duscht du überhaupt?
Ja, natürlich?!

Wo duscht du?
Unter der Dusche. Entweder meine eigene am Auto oder auf Autohöfen, im Schwimmbad oder auch mal bei Freunden.
Hört sich aufwendig an. Ich brauche meine Badewanne.
Ne Badewanne ist mega. Manchmal vermisse ich eine, aber in keiner meiner Wohnungen hatte ich bis jetzt eine und meist benutzt man sie doch eh kaum.

Was sagen eigentlich deine Eltern dazu?
Das ist mir eigentlich egal. Meistens haben meine Eltern sich zu allem negativ geäußert, was nicht ihrem Ideal entsprach, welches dem ihrer eigenen Eltern mal entsprach.
Meine Eltern würden durchdrehen.
Das sollte ja nicht dein Problem sein.

Wie verdienst du denn Geld?
Ich tausche meine Zeit gegen Geld. Mal als Banker, mal als Fahrer für Personenbeförderung, mal als KFZler, mal als Pferdepfleger.
Mein von Zeit in Euro getauschtes Geld investiere ich sehr oft recht geschickt, sodass aus 800€ Einkommen nicht selten 1200€ werden, die im Laufe des Monats zur Verfügung stehen. Oft decken die Erträge aus solchen Investments die normalen Lebensmitteleinkäufe im Monat ab.
Also ich mache Karriere. Ich brauche meine Ziele und das regelmäßige Einkommen. Mich nerven der Chef und einige Kollegen zwar heftig, aber irgendwas ist ja immer.
Deine Karriere ist doch aber nicht Jobgebunden. Du kannst dir einen Chef und deine Kollegen genauso aussuchen, wie die Art der Arbeit und die Werte deines Arbeitgebers.
Du kannst auch zeitweise einfach mal ein paar Monate gar nicht arbeiten und Ziele abseits eines Jobs haben.
Was ist mit deiner Rente?
Die beantrage ich zum Renteneintrittsalter.
Aber die kann doch nicht zum Leben reichen.
Kann deine das denn?
Wahrscheinlich nicht, aber meine wird dann voraussichtlich deutlich höher als deine aussehen.
Ich brauche aber auch deutlich weniger Geld. Etwas mehr zu haben, aber trotzdem nicht ausreichend, stellt für mich keinen Anreiz dar.

Wieso kannst du nicht einfach wie jeder andere auch sein und dir einfach ne Wohnung mieten?
Das kann ich schon, möchte ich aber nicht. So zu sein wie alle anderen ist für mich kein schlagkräftiges Argument um etwas zu tun.

Love it. Change it. Leave it.

Man könnte dieses Spiel endlos weiterführen, aber bis zu welchem Punkt? Wenn nach fast jedem meiner Argumente eine Abwehrreaktion oder Rechtfertigung erwidert wird, möchte sich mein Gegenüber hier nur selbst bestätigen und keinen sachlichen Austausch.
Das ist schade, aber eines meiner wichtigsten Hauptprinzipien, wenn du in einer Situation feststeckst, in der du negatives siehst, ist folgendes:

Gefällt mir meine Situation nicht, liebe ich sie nicht. Wenn ich sie dann nicht ändern kann, muss ich sie verlassen.
Tu ich das auch nicht, scheine ich ein Denkmuster zu haben, das für mich nicht gesund ist.

Natürlich leben wir im Jahr 2021, doch an der grundlegenden Wohnsituation hat sich im Allgemeinen bisher nicht viel geändert. Als normal gilt nach wie vor ein immobiler und domestizierter Wohnsitz.

Das Leben aber lebt doch von Veränderungen. Jede Chance ist eine Veränderung und umgekehrt. Wieviele Chancen entgehen jemandem, der aufgrund seiner festen Wohn- oder Arbeitsverhältnisse eine Beziehung, einen Wohnsitz im Grünen oder einen Traumjob nicht verwirklichen kann?

Ein schnelles Reagieren auf veränderte Lebensumstände ist verdammt teuer und umständlich. Ich bin in fünf Jahren drei mal umgezogen, jedes mal hat es ein Vermögen gekostet und war ein Kraftakt. Unfassbar nervig.

Die Zahl der Menschen, die in Deutschland tatsächlich und ausschließlich mobil wohnen, liegt im tausendstel Bereich. Nur wenige tausend Menschen in Deutschland haben also die Möglichkeit von heute auf morgen ein tolles Job- oder „Wohn-„angebot wahrzunehmen. Ebenso wenige können eine Liebesbeziehung mit einem Menschen in weiterer Entfernung gemäß ihren Bedürfnissen wahrnehmen.